Der Freitagmorgen beginnt trüb, auch in der Nacht hat‘s immer wieder geregnet. Somit wird das Aussenzelt mit Regentropfen besprenkelt verpackt und Sonja trägt noch etwas unfreiwilliges Zusatzgewicht. Wir folgen Diretissima der Spur über den Albulapass entlang dem Bahnlehrpfad, ohne die angedachte Zusatzschlaufe über den Sertigpass.
Eindrücklich was unsere Vorfahren hier geleistet haben, Kehren wurden in den Berg gesprengt, Tunnels und spektakuläre Brücken gebaut und dies mit viel einfacheren Hilfsmitteln als heute. Auf dem Weg zwischen Betgün und Preda können wir die Kraft der Natur und die Einflusskraft des Menschen im Laufschritt erfahren.
In Preda verlässt die Bahn die Landschaft in den Tunnel Richtung Engadin. Über den Pass führt nur noch die Strasse und für uns bleibt der Wanderweg. Der idyllische Palpuognasee lädt zum Verweilen ein, idealer Ort für eine Mittagsrast.
Im Wechselspiel zwischen Wind und Nebel überqueren wir den Albulapass.
Der Abstieg Richtung La Punt zieht sich in die Länge und ist ein visueller Genuss, gesellt sich zum Wechselspiel von Wind und Nebel noch die Sonne hinzu. Das Engadin öffnet für uns seine Tore.
Die heutige Nacht verbringen wir auf dem Zeltplatz in Madulain. Morgen wollen wir über die grüne Grenze nach Italien. Offen bleibt noch, ob wir dann nochmals einen Abstecher ins Val Müstair einbauen.
Was könnte uns wohl fehlen in den nächsten Monaten? Deshalb heute nochmals das volle Schweizer-Programm mit Cervelats vom Grill, grüner Salat mit richtiger Sauce, frisches Brot vom Beck und ja ein guter Tropfen Rotwein darf auch nicht fehlen.
Wir kommen einfach nicht früh los, auch heute Samstag wird es fast neun Uhr bis wir unsere Ausrüstung wieder wie bei einem Puzzle in unseren Rucksäcken verstaut haben. Die Sonne schaut schon recht grosszügig hinter den Wolken hervor und deshalb entscheiden wir uns, die lange Tour über die Fuorcla Trupchun bis Livigno zu wagen.
Es vergehen schon 2 1/2 Wanderstunden bis wir in der Parkhütte Varusch, am Eingang zum Nationalpark, ein zweites kleines Frühstück einnehmen, andere Gäste sind um diese Zeit schon bei Plättli und Wein!
Aber wir bleiben diszipliniert und nehmen den geplanten Weg wieder unter die Füsse, recht locker dem stetig leicht ansteigenden Tal entlang. Bei der Alp Trupchun könnte auch ein Feldstecher-Concours stattfinden, denn wie Ameisen kleben die Leute mit ihren Geräten am Hang und suchen alles minutiös nach vierbeinigem Bündnerfleisch ab.
Eine Stunde weiter hinten sehen wir dann auch ohne Nasenzoom Hirsche und Steinböcke.
Aber bis dorthin verläuft sich fast keiner mehr. Unsere Tagestour ist erst etwa zur Hälfte gelaufen. Und jetzt gehts richtig los, es bleiben noch 600 Höhenmeter im imposanten Steinkessel zu ergaunern. Der Weg ist erst teilweise hergerichtet, denn der Schnee ist immer noch präsent. Entsprechend anstrengend sind die letzten Höhenmeter.
Ein bisschen wie vom Winde verweht erreichen wir den Übergang auf fast 2800 MüM, welcher zugleich auch die italienische Grenze ist.
Hätten wir auch diese Variante gewählt, wenn wir den Abstieg gekannt hätten? Vielleicht… Die Bäche tosen und rauschen, zischen und fauchen von allen Seiten um die Wette. Der Abstieg führt im steilen Hang einer Schlucht entlang, aber der Winter hat dem Weg keine Verschönerungskur gegönnt und da wartet noch Arbeit auf die italienischen Wegreparierer.
Da wild Campieren grundsätzlich verboten ist in Italien brauchen wir ein Plätzli ohne direkten Sichtkontakt für Wanderer. Wir haben uns schon darauf eingestellt, nochmals mit ungewolltem Luxus auf dem Camping in Livigno vorlieb nehmen zu müssen. Doch dann tut sich plötzlich ein Törchen auf, nochmals zwei Hänge hochkraxeln und da ist unser Schlaf- und Kochplätzlein für diese Nacht.
Heute ist Domenica und wir ahnen richtig, dass wir nicht alleine die Natur geniessen wollen.
Obwohl wir Livigno rechts liegen lassen, herrscht reger Betrieb auf dem Weg zum Passo Alpisella. Hier hat‘s wohl ein Nest von E-Bikern!
Nicht nur daran erkennen wir, dass wir nicht mehr in der Schweiz sind. Denn eigentlich tragen alle eine Maske. Zwar die wenigstens über Mund und Nase, mehr so als Keimschleuder unterm Kinn, am Handgelenk, übers Gurgeli oder am Hosenbund. Trügerische Hygiene aber wenigstens muss die Distanz nicht eingehalten werden! Hinterlässt einige Fragezeichen in unseren Denkapparaten und wir hoffen, dass es in Südtirol etwas anders gehandhabt wird, lebt dort doch eine andere Kultur.
Dennoch geniessen wir den heutigen Weg sehr, ist er doch komplett anders als gestern. Landschaftlich eine Hochzeitstorte, fast schon kitschig.
Auf dem Passübergang beeindruckt uns, bei einem Blick zurück, die gestrige Fuorcla Trupchun, und wir staunen einmal mehr, welche Distanzen auch zu Fuss möglich sind.
An der Sorgenta d‘Adda, der Quelle des für Norditalien bedeutenden Adda-Flusses, füllen wir unsere Trinkflaschen.
Zurück im Tal bei den Stauseen erinnert eine kleine Kapelle an die Zeit um 1300 n.Chr. als dies ein bedeutender Handelsweg nach Bayern und Österreich war und Wein gegen Salz getauscht wurde.
Dies erklärt teilweise, dass der Weg fast rollatortauglich ist, dennoch schmerzen unsere Füsse mehr als gestern denn diese Steinwege bedeuten eine Dauermassage für die Fusssohlen.
Der zweite Pass für heute (tönt gut, sind aber keine Höhenmeter dabei), ist der Passo Val Mora und somit sind wir zurück in der Schweiz, doch wir könnten genau so gut irgendwo in Amerika auf dem PCT sein. Der milchige Fluss zieht frei durch die Canyons, Felsformationen wechseln sich mit Kiefern- und Lärchenwäldern ab und die Kraft der Natur zeigt sich in den zahlreich vorhandenen Steinrutschen.
Das Wetter ist stabil, keine Gewitter im Angebot, deshalb schlafen wir heute fast wie Winnetou am Fluss und warten gespannt, was das Morgenrot in den neuen Tag bringt.
Aber zuerst erhellt uns gegen Morgen den Fast-Vollmond und lässt unsere Köpfe aus den Zeltöffnungen spähen. Wir starten heute Montag in unsere sechste Vagabunden-Woche. Das Morgenrot haben wir verschlafen, aber umso schöner können wir trocken zusammen packen.
Bald wird das Tal breiter und vereinigt sich mit dem Val Mora, Paralleltal zum Val Müstair. Bei dezentem Glockengebimmel steigt es stetig minim an. Auch heute können wir uns kaum sattsehen an all den schönen Geschenken der Natur.
Am höchsten Punkt des Tals müssen wir uns entscheiden, ob wir den Abstecher über den Lai da Rims einschlagen möchten. Aber zuerst gibts eine Trinkpause. Und wer sitzt da auch schon bei einer zufriedenen Erholung? Vreni aus dem Obertoggenburg zusammen mit Cécile, eine frühere Arbeitskollegin von Sonja aus dem Spital Wattwil. Natürlich muss ein wenig ‚geschnäddert‘ werden. Wiedersehen macht auch im Val Mora grosse Freude!
Frisch beflügelt steigen wir hoch zum Übergang der Lai da Rims und nutzen die Gelegenheit, unseren ersten Gipfel mitzunehmen. Auf dem Piz Praveder entfaltet sich das Val Mora in seiner vollen Schönheit.
Nach einem kurzen Abstieg erreichen wir den schon lange türkis ins Auge stechenden Lai da Rims. Vor lauter gucken vergessen wir fast auf den rutschigen Weg zu achten!
Bis Santa Maria geht‘s 1000 Hm abwärts, die erste Hälfte recht steil. Beim Blick zurück bleibt noch die Erinnerung, welche der Wasserfall als Überlauf des Sees ins Tal trägt.
Dunkle Wolken ziehen auf und wir gönnen uns nach dem endlos gefühlten Abstieg ein Hotelzimmer und einen fremdgekochten Znacht. Natürlich geniessen wir den Komfort, aber besonders Spass bereitet uns der Austausch beim Znacht mit einem reisenden Päärchen mit Berner Dialekt.
In den letzten vier Tagen haben wir die Landesgrenzen zweimal überschritten und unsere persönlichen Grenzen ausgelotet. Denn die Wege waren teilweise anspruchsvoll und sehr lang. Wir sind froh, dass wir keine grösseren Beschwerden haben, dennoch schmerzen uns abends jeweils die Fersen. Baut sich da ein spezifischer Trailrunner-Muskel auf? Wir sind zwar sehr zufrieden mit unseren Schuhen, dennoch ist der Halt in unstabilem Gelände nicht gleich feudal wie in einem Bergschuh. Unsere persönlichen Grenzen sind definitiv noch ausbaufähig aber Morgen wollen wir endgültig die Schweizer Grenze hinter uns lassen.
3 Kommentare
Cristian · Juli 7, 2020 um 14:02
Julier… netter Pass, aber kletter mal de Piz Julier ufe… De hani am 13.08.2016 12:37 gmacht 😉
Euch a gueti witerreis u vill Spass. Isch a ganz schön’s Gebiet dürt woder unterwegs sid.
lg Cristian
Lüdi Silvia · Juli 7, 2020 um 08:36
Jugenderrinnerungen kommen auf- bin viermal mit dem Jugendlager der evangelischen Kirche Duisburg-Walsum in St. Maria gewesen und von dort aus haben wir einige verschiedene Touren gemacht. Wir sind auch über die Grenze nach Italien gelaufen um feine Pizza zu essen und den noch nicht erlaubten Rotwein!
Reinhold Wick · Juli 7, 2020 um 08:04
Sehr interessant und anschaulich Euer Tourenbericht.
Hirsche und Murmeli habt Ihr im Val Trupchun wohl auch gesehen. Hat Euch jemand durch das Fernrohr gucken lassen?